Klettermekka Marokkos

Von Sascha

Als der Morgen graut, werfen wir einen ersten Blick aus dem Zelt und sehen gar nichts. Dichter Nebel verschluckt jegliches Licht und lässt uns daran zweifeln, ob wir heute noch einmal die Sonne erblicken werden. Ich dränge auf einen baldigen Aufbruch. Schließlich hält uns hier nichts, 12 Stunden im Zelt zu liegen, genügt mir dicke. Wir sind nur wenige Kehren aufwärts gefahren und brechen plötzlich durch durch die Wolkendecke. Azur blauer Himmel empfängt uns, der Dunst, und die Wolken des gestrigen Tages sind verschwunden. Stattdessen liegt die Landschaft glasklar vor uns. Die Kiefern strahlen in dem ihnen ganz eigenen Grün, der Imsfrane dahinter ragt aus dem Nebel empor und verkörpert alle Kühnheit, die eine Felsgestalt haben kann. Auf einem Höhenrücken machen wir eine ausgedehnte Frühstückspause, genießen die Aussicht und die Landschaft, die anders ist als alles, was wir uns unter Nordafrika vorgestellt haben. Dies könnte fast in den Alpen sein nur sind die Schluchten tiefer, die Hänge wilder, die Bäume älter und vor allem fehlen menschliche Spuren hier, von der Straße abgesehen, gänzlich. Und auch diese ist wild. Der Teer hat uns schon lange verlassen, mehrfach sorgen wir uns, ob unser tiefliegender Leihwagen die folgende Strecke schafft. Dann gilt es auch noch ein Fluss zu durchfahren, denn ja, hier ist keine Wüste, ganz im Gegenteil, von den Seiten strömen frische Bergbäche hinab.

Nach einer weiteren Stunde Fahrt südwärts ändert sich das Bild der Landschaft erneut. So langsam entweichen wir dem Vegetationsgürtel, an den nördlichsten Hängen des Atlas. Es wird trockener, auch die Straße wieder größer. Die Dörfer werden anscheinend bereits von der anderen Seite aus versorgt. Flüsse und Bäche dienen als lebenspendende Wasseradern, umsäumt von fruchtbaren Feldern, blühenden Obstbäumen und kleinen aus Naturstein erbauten Dörfern, die sich so gut in die Landschaft einpassen, dass sie sich oft erst aus nächster Nähe als Bauten erkennen lassen. Kinder kommen herbeigelaufen und begrüßen uns neugierig, die ältere Bevölkerung sitzt oft einfach nur amStraßen- oder Feldesrand und schaut in der Landschaft herum. Die Zeit hier scheint langsamer zu vergehen, entschleunigter als im hektischen nach Profit strebenden Europa.Unser nächstes Ziel ist ein kleines Dorf mitten im Atlas, eingekesselt in Schluchten, Klettermekka Nordafrikas. Wir sind überrascht, dass die Straße inzwischen bis zum Ort führt. Noch vor zwei Jahren hatte man mehrere Stunden bis dorthin zu Fuß aufsteigen müssen. Doch nun wurde in die senkrechten Flanken des Canyons eine Kerbe geschlagen, breit genug, dass ein Auto gerade dort passieren kann. In der kleinen etwa 80 Häuser zählenden Ortschaft angekommen, sind wir überwältigt von den gigantischen Wänden darüber. Zwei schmale Schluchten nehmen hier ihren Ursprung. Alle Häuser sind noch in traditioneller Bauweise errichtet. Ein paar Monate früher, vor der Fertigstellung der Straße, hätte man nicht sagen können, ob hier die Bevölkerung im 19. oder 21. Jahrhundert lebt. Doch nun sind die in den Hang gegrabene Trassen, die frisch zersprengten Felsen und die umgewühlte Erde nicht zu übersehen. Wir kommen in der Gite Ajoudad unter, einem der größeren Häuser hier, gehalten in traditionellem Stil mit steinernen Wänden und einem Lehmdach. Von der Terasse schweift der Blick entlang einiger blühender Mandel-und Aprikosenbäume zu den Wänden des Oujdad und noch weiter zu den Felskesseln links wie rechts davon, wo zwei Schluchten aus konkav geschwungenen Senkrechten bestehend nicht nur den Kletterer locken. Darüber sind die höchsten Bergspitzen von Neuschnee gezuckert. Bald wird uns ein schmackhaftes Mittagessen serviert, was unseren Tatendrang aufs Neue weckt.

Eine kleine Kletterei heute sollte doch noch drin sein!Ein kleiner Grat auf der gegenüberliegenden Seite verspricht leichte Kletterei. In zwei Seillängen bohrhakengesicherter Kletterei steigen wir an scharfem Fels empor. Während anfangs noch potentielle Schlangenbegegnungen meine größte Sorge sind, erweist sich Andreas Kletterkönnen beziehungsweise dessen Eingeschränktheit als wirklich problematisch. Nun zollen schlechter Trainigszustand und angeschlagene Gesundheit ihren Tribut in diesem Urlaub. Mit den fünfer und sechser Stellen hat sie sehr zu kämpfen. Unweigerlich steigt Bedauern in mir auf, sind wir hier doch in einem der besten Klettergebiete der Welt, doch soeben de facto an der leichtesten Route gescheitert. Besser müsste man hier den achten und neunten Grad beherrschen, doch auch die wenigen Routen, die leichter sind, werden uns verwehrt bleiben, so meine Befürchtung. Das Fehlen der Haken in der nächsten Seillänge beendet jäh meine Grübeleien. Wo geht es weiter? Sicher, dies lässt sich sich auch ohne Bohrhaken klettern. Zwei Zwischensicherungen und 40 Meter im vierten bis fünften Grad höher sind wir wieder in leichterem Gelände, doch abseilen möchte ich hier nicht unbedingt müssen. Von unserer Route, beziehungsweise einem möglichen Abstieg gibt es immer noch keine Spur. Ich vermute weiter oben eine Abstiegsmöglichkeit vom Grat und tatsächlich finden wir über einige Bänder einen möglichen Abweg und sind wenig später wieder in unserem Quartier. Zum Abendessen gibt es eine köstliche Gemüse-Tajine sowie Suppe mit frisch gebackenem Brot und leuchtend angestrahlte Felswände, die wir lange auf unserer Terasse sitzend bewundern. Wenn es einen Klettterhimmel gibt, so könnte er aussehen. Das uns angebotene Haschisch lehnen wir dann aber doch dankend ab, schließlich wollen wir morgen noch halbwegs zurechnungsfähig und trittsicher sein, beides bei den schmalen Bergpfaden hier sicherlich nicht schlecht.Heute wollen wir unser Glück doch noch mal mit einer Kletteroute, der zweitleichtesten im weiten Umfeld, versuchen. Durch Felder und über Bewässerungskanäle gelangen wir zum Einstieg gleich auf der anderen Seite des Ortes. Unüberhörbar und unübersehbar sind leider auch das Hämmern der Maschinen auf den zahlreichen Baustellen. Seitdem es die Straßenanbindung gibt, schießen neue Häuser geradezu aus dem Boden. Wie lange dieser Ort wohl noch seinen Charme behalten wird? Wir tauchen in die schmale Schlucht ein, wo unserere Route beginnt. Direkt in der Felswand schießt das Wasser aus Karstsquellen und vereint sich zu einem munteren Strom, dessen Rauschen aus den Felswänden widerhallt. Die Kletterei ist vor allem wegen dem Ambient zwischen den gewaltigen himmelwärts strebenden Felswänden schön, denn ansonsten gilt es, zwischen einigen losen Blöcken und wacholderbestandenen Schrofen hinduchzunavigieren. Heute gelingt Andrea das Klettern bis auf die allerschwierigsten Stellen im sechsten Grad deutlich besser, doch ist auch klar, dass wir uns in anspruchsvollere Touren nicht zu begeben brauchen. Sehnsüchtig blicke ich zu gegenüberliegenden Wand hinüber, senkrecht bis leicht überhängend auf 300 Metern und so glatt und kompakt, als wäre sie mit einem einzigen Hieb eines riesigen Beiles aus dem Berg gehauen. Trifft unsere Beschreibung auch heute zwar recht genau die klettertechnischen Ansprüche, ist die Zahl der Seillängen doch gänzlich falsch, wähne ich uns doch zweimal schon dem Ausstieg nahe, obwohl wir noch einige Dutzend Meter zu klettern haben. Der Abstieg vollzieht sich sehr ausgesetzt über schmale Bänder oberhalb des Abgrundes, den wir soeben überwunden haben. Da erst Mittag ist, beschließen wir in die westlichere der beiden von hier abzweigenden Schluchten hineinzuwandern. Schon nach wenigen Schritten türmen sich über uns 600 Meter hohe Klippen. Mein stets wiederholter Kommentar, „Das ist eine Wand!“ trifft es wohl nicht ganz, doch manchmal sind Worte schlicht nicht ausreichend, um das Dargebotene zu beschreiben. In zartem rosé, wundervoll kontrastiert von Gelb- und Grauabstufungen erstrahlen die Wände rund um uns und tauchen selbst die tiefsten Schatten in ein warmes, fast schon übernatürlich wirkendes Licht. Um Begeisterung für diesen Canyon zu empfinden, braucht es gar nicht mal das Wissen, dass der Fels sich perfekt zum Klettern eignet, die Szenerie allein übertrifft in ihrer Großartigkeit alles, was man sich unter einer Schlucht vorstellen kann. Dass hier gleich hunderte Mehrseillängenrouten verlaufen, zwar mit den Graden 7b bis 8b deutlich zu schwer für mich, krönt die Euphorie. Eines ist gewiss: Ich werde wiederkommen. Zum Klettern.Der Berberpfad, dem wir folgen klebt im wahrsten Sinne des Wortes an der Felswand, sind doch nicht selten Baumstämme in den Felsriefen verklemmt und mit Steinen beschwert, sodass ein dünnes Band über dem Abgrund die einzig mögliche Passage vermittelt. Während ich außerordentliches Vertrauen in diese Jahrhunderte alten Pfade habe, schließlich werden sie täglich von unzähligen Ziegen, Schafen und Einheimischen passiert, Touristen sucht man hier (noch) vergebens, ist Andrea das abschüssige Gelände nicht behaglich, was uns zur Umkehr veranlasst.Den Nachmittag verbringen wir ganz gemütlich in unserer Unterkunft, die wir doch nicht nur wegen dem guten Essen und der hervorragenden Bewirtung eine weitere Nacht gerne gegen unser Zelt eintauschen.

Ein Kommentar

  1. Nicola+Buttgereit

    Hallo Schwesterchen, meine absolute Hochachtung vor deinem Kletterkönnen. Ich bin wirklich beeindruckt im Gegensatz zu deinem Sohn. Pass gut auf dich auf und gönne dir regelmäßige Erholung.

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