40 Grad zu kalt


Schnee und Kälte in Afrika? Nicht wenige hatten uns das angesichts unseres Reiseziels nicht abkaufen wollen. Tatsächlich sollte dies die kälteste Bergtour meines Lebens werden, aber der Reihe nach.

Eine Unwetterfront hat Marokkos Norden seit drei Tagen fest im Griff. Unser Plan, eine Kletterei von der Südseite des Atlas zu wagen, bedarf keiner weiteren Überlegungen mehr. Zu viel Schnee, zu wenig Zeit, zu viele verschüttete Straßen. So fahren wir auf die Atlasnordseite, vorbei an auf die Straße rollenden Felsbrocken und braunen Sturzbächen, flüchten vor dem Regen in ein Hotel, um gleich am nächsten Morgen wieder zu fliehen, vor dem Grauen dieser schäbigen Unterkunft.
Die Felder zu beiden Seiten der Straße sind überspült, es gießt in Strömen und immer wieder fragen wir uns, ob wir den nächsten Wasserschwall unbeschadet durchfahren können. Unser Ziel, absurder könnte es in Anbetracht des Wetters kaum sein, sind die Berge. Doch die Vorhersage meldet für den nächsten Tag Sonne, die will genutzt sein. Aus den 10 Grad bei Marrakesh werden Null, aus Regen Schnee. Erst fallen langsam erste Flocken, dann werden sie immer dichter, überziehen die eben noch satt grünen Wiesen genauso wie die erblühten Kirschbäume.

An einem Tag lassen sich die höheren Bergregionen von hier unten kaum erreichen, also muss ich heute schon los, um morgen das schöne Wetter nutzen zu können, allein, ohne Andrea, denn sie setzt bei diesem Wetter klugerweise keinen Fuß vor die Tür. Eine weitere Schwierigkeit gibt es im Tal von Imlil. Es ist gesperrt für Touristen, es sei denn, diese haben einen Guide (was in Marokko meines Wissens nach ein rein bürokratischer Titel und nicht mit europäischen Standards zu vergleichen ist), zur Sicherheit der Touristen, heißt es, oder aus realistischer Perspektive, um etwas mehr Geld bei den Bergsteigern abzuschöpfen. Ich bin natürlich ohne einen solchen unterwegs, bin ich doch weder Freund von staatlicher Willkür, noch von unnötigen Kosten, erst recht aber lehne ich jegliche Einschränkung der Bewegungsfreiheit ab.

Im Schneetreiben ziehe ich am frühen Nachmittag los. Es gibt zwei Checkpoints, wo neben der Identität hauptsächlich die Anwesenheit eines Guides kontrolliert wird. Im Bachbett klettere ich zwei Stunden lang über schneebedeckte, glitschigen Felsen und vermeide so eine Begegnung mit den lokalen Rechtsvertretern. Dahinter stoße ich wieder auf den Weg, der zur Berghütte führt, wo ich übernachten will. Alles um mich herum ist weiß. 15cm Schnee sind inzwischen gefallen und verdecken die Spuren auf dem Pfad vor mir. Unerwartet treffe ich auf eine Gruppe Menschen, ein gutes Dutzend Touristen, begleitet von einigen Guides. Bei diesem Wetter freut man sich richtig, jemandem zu sehen , vergisst man doch zwischenzeitlich, dass es eine andere Welt als die aus Schnee, Eis und tiefhängenden Wolken gibt, wo die Sicht gerade mal 20 Meter weit reicht. Wo ich hin wolle, werde ich gefragt. Unmöglich soll es sein zu Hütte zu kommen, zu viel Schnee. Die Guides haben schlicht keine Lust, im tiefen Schnee zu spuren und weiter aufzusteigen. Dies kann man bei diesem Wetter freilich niemandem verübeln. Die enttäuschten Kunden, die jeweils sicher um die 100 Euro bezahlt haben, fragen, ob sie sich mir anschließen dürfen. Natürlich, aber auf ihr eigenes Risiko. Dies ist ihnen aber dann doch zu unwägbar. So bin ich also allein, hier oben im Whiteout, bemühe mich, die tiefen Schneeverwehungen zu meiden und mich über die freigeblasenen Steine fortzubewegen, überzeugt, dass die Hütte verlassen daliegt und ich heute keiner Menschenseele mehr begegnen werde. Wie ein Schock, ist es da, als ich die Hüttentüre eine Stunde später öffne, und sich darin 150 Gäste befinden.

Schnell verziehe ich mich ins Nachtlager, um zeitig Schlaf zu finden. Obwohl in den Decken tief eingebraben, höre ich plötzlich klar die an meine Zimmergenossen gewandte Frage, ob hier ein einzelner Wanderer sei. Etwas an dem schneidenden Ton gefällt mir gar nicht, ebenso wenig die Erkenntnis, dass das Hüttenpersonal offensichtlich jedes Zimmer nach mir durchsucht. Also rühre ich mich nicht und halte den Atem an. Einer der Polen, die dasselbe Zimmer belegen, mit denen ich zuvor kein Wort gewechselt hatte, die mich aber ganz klar gesehen haben, entgegnet „Nein, hier ist nur unserer polnische Gruppe, hier kann kein Fremder sein.“ Eine Woge des Dankes überkommt mich für diese unerwartete Hilfe.

Nach wenigen Stunden Schlaf stehe ich wieder auf und verlasse die Hütte lange vor Tagesanbruch. Mit lautem Krachen, das jeden geweckt haben dürfte, löst sich die festgefrorene Einganstüre aus dem Rahmen und ich trete heraus in den mondbeschienen Schnee. Der Wind hat den Schnee in die Täler verfrachtet, wodurch ich durch 60cm Pulverschnee meinen Weg bahnen muss. Die ersten 300 Meter Strecke kosten mich eine Stunde, dann wird die Schneedecke dünner und das Fortkommen leichter. Noch immer zeigt sich keine Spur von Tageslicht, ich blicke auf die Uhr und muss schmerzlich feststellen, dass mein Handy auf europäischer Zeit steht, sodass ich eine Stunde zu früh bin. So drohe ich, den Gipfel vor Sonnenaufgang zu erreichen, zu warten kommt bei diesen Temperaturen aber nicht in Frage. Es ist minus 25 und sobald ich stehen bleibe wird es kalt. Mit Steigeisen setze ich meinen Aufstieg fort über hart gefrorene Altschneefelder. Im Einschnitt des Tales nördlich von mir leuchten die Lichter von Marrakesh, wie eine andere Welt, nur einen Katzensprung entfernt und doch unerreichbar. Wind kommt auf und wirbelt mir feine Schneekristalle entgegen, die im Gesicht schmerzen und durch jede Ritze unter die Kleidung eindringen. Nie zuvor habe ich es so kalt erlebt, so beschließe ich, am Pass umzukehren.

Schneesturm in der Dunkelheit


Doch dort angekommen, zeichnet sich ein rötlicher Streifen über dem östlichen Horizont ab. Wie wäre es, den Sonnenaufgang auf dem Gipfel zu erleben, endlich wärmende Sonnenstrahlen zu begrüßen und vielleicht auf der Ostseite vom höchsten Punkt etwas Windschatten zu finden? Dem gegenüber steht ein langer kalter Abstieg über meinen Aufweg gänzlich ohne Sonne und im oberen Teil ebenfalls dem Wind ausgesetzt. Die Versuchung ist einfach zu groß. Ich gehe weiter.

Als ich die oberen Gipfelhänge betrete, wird der Wind immer brutaler. Mit 70km/h droht er nicht nur, mich von den Füßen zu reißen, sondern führt auch zu einer Windchill Temperatur von -44 Grad Celsius. Gegen die Böen ankämpfend, torkele ich aufwärts. Hier oben ist kein Körnchen Schnee mehr, der unnachgiebige Wind trägt alles fort, auf das er trifft. Dann ist der Gipfel erreicht, ohne die sonst übliche Euphorie, die mit einem solch besonderen Ort verbunden ist. Die Sonne taucht über die bergige Horizontlinie im Osten, wo sich der Atlas scheinbar bis in die Unendlichkeit erstreckt. Im Süden liegt kaum Schnee, einige Nebelfelder bedecken die unteren Gebirgsausläufer, dahinter der nördliche Rand der Sahara, die hinter einem felsigen Hügelzug zur reinen Sandwüste wird. Hinter Marrakesh muss irgendwo das Meer liegen, wie der bläulich schimmernde Dunst verrät.

Ich mache kaum eine Handvoll Fotos, dann eile ich wieder hinab. Erst eine halbe Stunde später stelle ich fest, dass ich mir die vorderen Glieder zweier Finger erfroren habe. Ein Paar Sekunden die Kamera ohne Handschuhe zu halten, hat dafür gereicht. Ich hoffe, dass es sich nur um eine Erfrierung des zweiten Grades handelt, die ohne Folgeschäden wieder abheilt. Beurteilen wird man dies aber wohl erst in Tagen oder Wochen wirklich können. Kurz vor der Hütte begegne ich den Guides, die insgesamt fast 100 Kunden auf den höchsten Berg Marokkos schleppen. Alpinisten wie Bergneulinge, sie alle sind ihren Führern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, ob die Trillerpfeife nur mir gegenüber, dem illegal Alleinreisenden zum Einsatz kommt, dafür reicht der Beobachtungszeitraum nicht aus, ich vermute allerdings anderes. Mal eröffnen mir die Entgegenkommenden, ich werde mit den Füßen im Schnee stecken bleiben und kopfüber den Berg hinunterstürzen oder aber auf dem (nicht vorhandenen) Eis ausgleiten und dabei noch ihre Kunden mit in den Tod reißen. Ganz so problematisch sehe ich dies auf einer knapp 30 Grad geneigten Pulverschneeflanke nicht und überleben tue ich entgegen aller Prophezeiungen auch diese Tour, so viel sei vorweg genommen.

Sorge hingegen bereiten mir meine schmerzenden Finger und das Passieren der Checkpoints im Tal. Kurz vorher warte ich, bis eine geführte Gruppe vorbeikommt und folge ihr mit geringem Abstand. Als dann der Polizist am Kontrollposten für einen Moment hinter dem Gebäude verschwindet, husche ich unbemerkt vorbei.

Wieder vereint, fahren wir nach Marrakesh und stürzen uns in den Trubel der Stadt. Ein Hotel zu finden ist nicht einfach, alles ist belegt, die Gassen verstopft von Touristen. Gewiss hat die Stadt auch ihre reizvollen Ecken, doch die allermeisten Menschen hier sind entweder Touristen oder versuchen sehr nachdrücklich Geld mit den ersteren zu verdienen. Dies finden wir auf Dauer ziemlich anstrengend.

Dies ist nun wirklich der letzte Blogbeitrag von Marokko. Da wir hier bisher nur Handyfotos hochladen konnten, folgt in den nächsten Wochen nochmal ein Link zu Saschas Website mit „richtigen“ Fotos.

4 Kommentare

  1. Irmgard Kasper

    Mein Gott, eine entsetzliche Tour! Da zittere ich beim Lesen. Was machst du bloß für Sachen, Sascha!

  2. Super Sascha, dieser Beitrag ist top! Man bekommt das Gefühl wirklich ganz dicht dabei zu sein. Nur glücklicherweise vom warmen Zimmer aus!
    Ich freue mich auf euch beide und weitere mündliche Reiseberichte!
    Papa

  3. Gott sei Dank bist Du einigermassen heil zurück. LG Amara

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert